Brockhaus – Conversation 4.0
Industriekultur Leipzig e.V. zeigt seine 5. Kunstausstellung „Ästhetik des Banalen“ in Kooperation mit dem Kunstverein ARS AVANTI e.V.
2. bis 17. Juni 2023 – Alte Handelsschule, Gießerstraße 75, 04229 Leipzig-Kleinzschocher
Programm
>> Vernissage: 2. 6. 2023, 19:00–22:00 Uhr
>> Kurator*innenführungen: 3. 6., 16. 6., 17. 6. 2023, jeweils 16:00 Uhr
>> 9.6., 16:00 Uhr Führung MdbK mit Dr. Sander – Sammlung Bühler-Brockhaus
>> 10.6., 16:00 Uhr Künstler*innengespräch
>> 13.6., 18.00 Uhr Fachvortrag »Ist Wikipedia der neue Brockhaus?« – Falk Röhner, eingetragener Wikepedia-Administrator – entfällt!
>> 15.6., 18:00 Uhr Fachvortrag mit Dr. Keiderling – Zur Geschichte des Brockhaus Verlages
>> Laufzeit: 2. 6.–17. 6. 2023
>> Geöffnet: Mo-Mi: 9:00–12:00 Uhr, Fr+Sa 15:00–18:00 Uhr
Ausstellung
Anlässlich des 200. Todesjahres des Brockhaus-Verlagsgründers in Leipzig ist eine Ausstellung geplant, die sich mittels verschiedener künstlerischer Positionen den Themen der Wissensspeicherung und Wissensvermittlung widmet. Ausgangspunkt ist die Brockhaus Enzyklopädie, welche sich noch heute als Garant für geprüftes Wissen darstellt. Dieses Selbstverständnis wird in ausgewählten Kunstwerken durch drei Künstler*innen aufgegriffen und auf heutige Formen der Wissensspeicherung und -vermittlung befragt. Hierbei kommen ganz unterschiedliche Ansätze zum Tragen, welche sich sowohl konkret mit dem Medium der Enzyklopädie auseinandersetzen als auch den Blick auf Übersetzungsdienste und Künstliche Intelligenz richten.
Andere Kulturkreise geraten in den Fokus, wenn internationale Kommunikation gefordert ist oder Selbstoptimierungsstrategien gefragt sind. Im Zeitalter der Digitalisierung erscheint ein Lexikon in Buchform als überholt, ist doch der Zugang zu weiteren Wissensgebieten via Internet viel schneller und leichter zu generieren. Doch angesichts kursierender Datenmengen ist eine Selektion von nützlichem Wissen oftmals schwierig. Ebenso werden Fragen nach dem Wahrheitsgehalt von Informationen aufgeworfen. Was ist wissenschaftlich belegt, welcher Statistik kann ich trauen oder welchen Realitätsbezug haben noch überlieferte Lehrmeinungen und Traditionen? All diese Fragen tauchen in den Kunstwerken mit unterschiedlicher Gewichtung auf.
So verhandelt Andreas Schröder in seiner Installation „Salting Books“ die Beziehung zwischen traditionellen Konservierungsmethoden mittels Salz und der Konservierung von Wissen in Enzyklopädien wie z. B. im analogen Brockhaus-Lexikon. Durch die Behandlung mit Salz wird das Lexikon jedoch seiner ursprünglichen Funktion entledigt. Hierbei tauchen Fragen nach der Beständigkeit von Überlieferungen und Wissen auf, die auch die Frage nach der Existenz von Fake-News in den Raum stellt. Bildteppiche aus analog gefertigten Negativen und die Illuminierung fotografierter Baumscheiben im Plexiglas greifen zudem andere Formen der Wissensspeicherung auf.
Mingren Li untersucht in ihrem digitalen Projekt Post Traveler Dictionary die Visualisierung von Handlungsempfehlungen von Reisenden der Generation Z im virtuellen Raum. Auch hier spielt das Wissen von anderen Gegenden in der Realität und deren Beliebtheitsskala eine grundlegende Rolle. Schließlich soll mittels einfacher Symbolik den virtuell Reisenden ein Erlebnis vermittelt werden, welches sie live mit anderen Nutzer*innen von Social-Media-Plattformen teilen können.
Stefan Hurtig greift in seinen Arbeiten immer wieder das Thema selbstlernender Systeme auf, welche als künstliche Intelligenz (KI) bezeichnet unser Leben schon heute stark beeinflussen. Dazu werden Trainingsdaten erhoben, auf deren Basis die KI selbständig neue Daten generiert. In seiner neuesten Arbeit greift Hurtig das Motiv von Buddha-Figuren auf, die aus dem digitalen Netz bezogen, neue Figuren kreiert. Diese neuen Entitäten werden mit einer alphabetischen Auflistung von Medikamenten kombiniert, die jüngst in den USA zugelassen wurden. Die Neuschöpfung von Bildern und Namen erzeugen somit eine Art von Enzyklopädie einer modernen Biotechnologie, die vor kultureller Aneignung östlicher Religiosität nicht Halt macht.
Zielstellung / Ausstellungsort / Begleitprogramm
Diese künstlerischen Auseinandersetzungen sind ein Angebot, Besucher*innen für das Thema der Wissensgenerierung, -speicherung und -vermittlung zu sensibilisieren und zu eigenen Reflexionen anzuregen. Sie bilden eine Plattform des interdisziplinären Diskurses und laden ein, sich mit unterschiedlichen Kulturkreisen und Gedankengut zu beschäftigen und dieses in demokratische Prozesse einfließen zu lassen.
Die Ausstellung der genannten jungen Positionen wird im jetzigen Atelierhaus der Alten Handelsschule Leipzig, Gießerstraße gezeigt. Durch die Lage des Ausstellungsraumes in einem ehemaligen Schulgebäude in Kleinzschocher ist ein unmittelbarer Bezug zum Thema Wissensspeicherung und Wissensvermittlung gegeben.
Galerie Alte Handelsschule "Nischenkosmos #4", Foto: © Barbara Röhner
Im historischen Kontext bildete die ehemalige 25. Bezirksschule und 51. Volksschule vielen Arbeiterkindern erste schulische Kenntnisse, auch aus Familien der umliegenden Betriebe der Drucktechnik und Buchherstellung. Auch in späterer Zeit als Berufsschule in der DDR wurden hier Polygraphen ausgebildet. Die Aula, der heutige Ausstellungssaal des gemeinnützigen Kunstfördervereins ars avanti e.V. in der Alten Handelsschule, hat sich über die Jahre als kulturelle Einrichtung mit einem abwechslungsreichen und qualitätsvollen Ausstellungsangebot etabliert und bietet kostenfreie Präsentationsmöglichkeiten für künstlerische, kulturelle und interdisziplinäre Projekte zur Bereicherung und Belebung des Stadtgebietes. Durch einige Ausstellungsstücke und den Ausstellungsort in Kleinzschocher samt Meyer’schen Häusern wird zudem auf Meyers Konversations-Lexikon verwiesen, welches schließlich 1984 in das Bibliographische Institut & F. A. Brockhaus überging.
Geplante Führungen / Artist Talks
Da Wissensspeicherung und Wissensvermittlung zur Bildungslandschaft einer demokratischen Gesellschaft gehören, sind während der Ausstellung sowohl Führungen für Schulen als auch für Seniorengruppen, Student*innen, Familien, Bürger*innen und Gäste der Stadt geplant, um die Ausstellung auch über das kunstbegeisterte Publikum hinaus wirksam werden zu lassen.
Durch Künstler*innengespräche werden den Gästen der Ausstellung die einzelnen Werke im Kontext der Präsentation aber auch zum Werk der Künstler*innen selber näher gebracht. Das Publikum erhält die Möglichkeit, sich direkt mit den jeweiligen Künstler*innen aber auch zur Thematik der Ausstellung auszutauschen.
Zu den Künstler*innen
Andreas Schröder
Der 1983 in Kasachstan geborene Künstler Andreas Schröder ist Diplomgrafikdesigner und studierte an der HGB bei Prof. Tina Bara und Prof. Joachim Blank Fotografie, Bewegtbild und Raum & Installation und schloss auch dieses mit einem Diplom ab. In seinen Arbeiten werden Themen der Wissensspeicherungen, Überlieferungen und das Verhältnis von Körper und Geist verhandelt. Insbesondere in seiner Installation „Salting Books“ stellt der Künstler eine Verbindung alter Konservierungsmethoden mittels Salz und die Konservierung und Vermittlung gesammelten Wissens in Konversationslexika her. Hierfür verwendet er antiquarische Ausgaben des Brockhaus-Lexikons wie des Meyerschen Lexikons. Durch den Prozess der Konservierung durch Salz werden diese Lexika jedoch ihrer ursprünglichen Bestimmung beraubt und erscheinen als skulpturale Gebilde im Raum. Die Transformation vom Gebrauchsgegenstand in ein Kunstobjekt ruft Fragen nach der Beständigkeit von Überlieferungen und Wissen hervor. Begriffe wie Wahrheit und Lüge, Realität und Illusion, Wissen und Fake-News werden somit in den Raum gestellt. Des Weiteren arbeitet der Künstler mit gespeicherten Daten in Baumscheiben und Negativen, die er zu Bildteppichen miteinander verwebt. Bilddaten und Klimadiagramme ergänzen somit das gespeicherte Wissen in Wort und Zahl, sei es in analoger oder digitaler Form heutiger Lexika.
Weitere Informationen: https://www.schroeder-andreas.com
© Andreas Schröder – Installation enkyklios paideia (32 Buchobjekte)
Mingren Li
Die 1993 in Qinhuangdao, China geborene Kommunikationsdesignerin Mingren Li studiert gegenwärtig an der Burg Giebichenstein in Halle und wurde dort in der Kategorie „Engagiertestes Anliegen“ für den Designpreis 2022 nominiert. In ihrer Arbeit Post Traveler Dictionary untersucht sie die Visualisierung von Handlungsempfehlungen von Reisenden der Generation Z, welche durch Reisebeschränkungen wie zur Zeit der jüngsten Pandemie auf Fake-Reisen via Social-Media angewiesen sind. Wie ein digitaler Guide wird vermeintliches Insiderwissen gespeichert und weitergegeben. Die Grenzen zwischen virtuellem und reellem Raum werden dadurch aufgehoben. Den Nutzer*innen in China wird jedoch ein Bild von Ländern vermittelt, wie es über einen langen Zeitraum durch Enzyklopädien tradiert wurde. Neuere Entwicklungen scheinen dabei keinerlei Rolle zu spielen, wodurch ein Denkmuster in Stereotypen nicht auszuschließen ist.
Weitere Informationen: https://www.instagram.com/li_ming_ren/
© Mingren Li: Post Traveler Dictionary
Stefan Hurtig
Der 1981 in Zwickau geborene Medienkünstler Stefan Hurtig war Meisterschüler bei Prof. Alba D’Urbano und bekam 2018 den Preis der Leipziger Jahresausstellung. Seine Arbeiten greifen Fragen in der Entwicklung künstlicher Intelligenz (KI) auf. Durch selbstlernende Systeme, dem sogenannten Deep Learning, sind Computer mittlerweile in der Lage, über die Fähigkeiten des Menschen hinaus rasant wachsende Datenmengen zu analysieren und Lösungen anzubieten. Wissen aus gedruckten Enzyklopädien scheinen immer mehr an Relevanz zu verlieren. Selbst die noch vorhandenen Onlinevarianten von Konversationslexika können der internationalen Plattform Wikipedia kaum Konkurrenz bieten, obwohl deren Inhalte weitaus genauer auf Tatsachen überprüft werden. Wissen spielt nur noch insofern eine Rolle als dieses für neue Lösungsansätze notwendig ist, wodurch die künstliche Intelligenz heutzutage nicht mehr wegzudenken ist. Aber was bedeutet diese Entwicklung für den Menschen? Ist KI ein Fluch oder ein Segen? Welche Möglichkeiten bieten sich überhaupt, aus der Vielzahl von Datensätzen Orientierung zu bekommen? Oder stellt sich eher die Frage, wo sind Lücken im System der Daten und welche Relevanz haben sie für uns? Und bringt uns ein Blick in das über Jahrhunderte gesammelte Wissen der Enzyklopädien heute noch weiter? Hurtigs Arbeiten liefern hierzu keine konkreten Antworten, wohl aber weiterreichende Fragen. Viele Besucher werden sich an Hurtigs in der 4. Kunstausstellung des Vereins „Der optimierte Mensch“ im Museum der bildenden Künste gezeigte Installation „Ava, Tom & Serena“, den kommunizierenden Staubsaugerrobotern, erinnern.
Weitere Informationen unter: https://www.stefanhurtig.de
© Stefan Hurtig
Zu den Kurator*innen
Dr. Barbara Röhner, Kunsthistorikerin und Kuratorin, geb. 1969, lebt in Leipzig
Heinrich Moritz Jähnig, Theologe und freier Journalist i.R., geb. 1952, lebt in Leipzig.
Fotos
Vorschaubild: © Andreas Schröder – Installation enkyklios paideia (32 Buchobjekte)
Kopfbild 1: Ästhetik des Banalen #4: Nischenkosmos, 2021, Foto: © Barbara Röhner
Änderungen vorbehalten.