Ein Industriekulturtag ganz anders
Ein Industriekulturtag ganz anders
Interview von Heinrich Moritz Jähnig für die Website www.industriekultur-in-sachsen.de
Mit freundlicher Genehmigung des Autors. Nachdruck und Vervielfältigung auch auszugsweise nicht gestattet.
Warum gibt es die „Tage der Industriekultur Leipzig“?
Rückblickend verlief das völlig logisch. Unser Verein wurde seit 2009 tätig und hatte zu den unterschiedlichen Akteuren Kontakt aufgenommen, die gleichfalls in der Kulturstadt Leipzig das Thema Industriekultur spielten. Bei aller Verschiedenartigkeit ihrer Ansätze und Wirkungsfelder einte sie die Erfahrung, nicht ausreichend wahrgenommen zu werden und besser darstellen zu wollen. Diesen kleinsten gemeinsamen Nenner identifizierten wir als das einigende Element. Alle konnten dem Grundgedanken folgen, sich ohne eine neue, großartige Hyperstruktur an einem Tag im Jahr gemeinsam sichtbar zu machen. Wir wollen allen zeigen, was Leipzig an Industrie und Industriebezug zu bieten hat, worum sich zu sorgen wichtig und bereichernd ist und was das für ein reiches Angebot der Gegenstand Industriekultur für andere sein kann. Für dieses Ziel machen noch heute alle Interessierten eine kleine Umlage und wir die Arbeit. Was ungeheuren Spaß macht, weil der Erfolg so greifbar geworden ist.
Gibt es in diesem Jahr besondere Highlights?
Das ist immer sehr schwer zu beantworten. Ich will speziell in diesem Jahr keinen Teilnehmer zurücklassen. Auffällig ist für mich: viele Trümpfe spielen die Standorte in der Region, worunter wir den Einzugsbereich Leipzigs in den drei mitteldeutschen Bundesländern verstehen. So hat der Standort Wurzen mit der INDUSTRIEMAGISTRALE eine Struktur gefunden, die auf signifikant Weise Industriegeschichte und modernes, leistungsfähiges Unternehmertum der Stadt zusammenbringt. Eine einmalige Erlebnisachse der Industriekultur, die am 5.9. durch die durch die Sächsische Staatsministerin für Kultur und Tourismus, Barbara Klepsch, in der CRYOTEC Anlagenbau GmbH eröffnet wird. Ein weiterer Höhepunkt der Leipziger Tage der Industriekultur 2020 ist, dass der Standort Bitterfeld-Wolfen wieder Anschluss gefunden hat und im Zuge der 2. Kunst- und Kulturwoche den Chemiepark zeigt und den Bitterfelder Weg zu Kunst und Produktion neu einordnet. Im Bergbau Technik Park in Kleinpösna werden „Signals“, spektakuläre Kompositionen für zwei Megaphonchöre von Anna Korsun und Sergey Khismatov, zur Aufführung kommen, was experimentell und mutig ist und zeigt, wie breit der Industriekulturbegriff gefasst ist.
Ich kann mich aber in Leipzig nicht mehr blicken lassen, wenn ich bei dieser Gelegenheit nicht auf dortige Höhepunkte wie unser Industrie|Kultur|Festival#5 mit der Premiere der neuen immersiven Show „Boomtown“ im Kunstkraftwerk, die das Thema Arbeit im Leipziger Stadtteil Plagwitz darstellt. Die große Ausstellung „WerkStatt Leipzig“ im Stadtgeschichtlichen Museum wird sehr starke Beachtung finden, so wie es die Ausstellung „Das Auge des Fotografen. Industriekultur in der Fotografie seit 1900“ im Museum für Druckkunst schon tut. All diese großen und kleinen Aktivitäten feiern mit ihrer unverwechselbaren Stimme den Standort Leipzig im sächsischen Jahr der Industriekultur.
Gibt es ein spezielles Thema bzw. worauf liegt der Fokus?
Was immer wieder in den unterschiedlichsten Formen thematisch aufpoppt, ist „Arbeit“, ganz zentral in „Boomtown“ und „WerkStatt“. Selbstkritisch müssen wir als veranstaltender Industriekultur Leipzig e. V. festhalten, dass wir den Zusammenhang von „Arbeit“ und „Intuition“ konzeptionell nicht so klar herausarbeiten konnten, wie gewollt. Aber das ist bekanntlich ein ewiges Thema und stellt sich uns immer wieder neu.
Haben Sie das Gefühl, dass sich das Bewusstsein für Industriekultur in den letzten Jahren gewandelt hat?
Auf jeden Fall. Vor 12 Jahren kannte man in der Breite nicht einmal den Begriff. Um Leipzig machte ERIH einen Bogen und die Kommune war dem Zweckverband Sächsische Industriemuseen nicht beigetreten. Vielleicht sahen die Handelnden damals in Industriekultur schon wieder so eine neue Modeströmung aus dem Westen, die im Ruhrgebiet Sinn mache, aber den Kulturmetropolen Sachsens irrelevant sei. Anfangs waren es Vereinzelte, die sich mit den Zusammenhängen von Tradition und Perspektive befassten. Dann erklärte der Freistaat Sachsen Industriekultur zum Landesthema und allmählich bekam die Sache im Land Schwung. Das Wort gewann seinen heute guten Klang. Die Vorbereitung des Jahres der Industriekultur gab dieser positiven und begrüßenswerten Entwicklung noch einmal einen besonderen Drive. Nicht zuletzt durch die großzügige Förderung nahm die Beschäftigung mit den Themen zu. Es wird aber auch etwas unübersichtlich, wer sich wann, warum mit etwas beschäftig, das er Industriekultur nennt. Für mich und meinem Verein ist augenblicklich wichtig, die Weichen für unsere Arbeit in der Zeit nach dem Jahr der Industriekultur zu stellen. Das Bewusstsein für Industriekultur darf nicht wieder schwinden, sollte die Politik neue Schwerpunkte setzen. Dabei möchte ich nicht verhehlen, aus schon genannten Gründen kein Freund einer übergeordneten Interessengemeinschaft zu sein. Das halte ich für nicht zeitgemäß.
Gab es coronabedingte Hürden, die überwunden werden mussten?
Der Tag der Industriekultur Leipzig reagiert auf die coronabedingten Entwicklungen mit dem Thema seines Netzwerktreffens, bei dem alle Teilnehmer über „Industriekultur in Krisenzeiten – Teil der Lösung oder Teil des Problems?“.
Als Veranstalter waren uns lange nicht darüber im Klaren, ob es angebracht sei, in diesem Jahr das Festival überhaupt durchzuführen. Der shut down verhinderte die reguläre Vorbereitung. Andererseits blieben wir optimistisch und wollten ein Zeichen setzen, nicht resignieren. Die Wirtschaft darf schließlich auch nicht resignieren. Kurz, es gab viele Hürden im eigenen Kopf, in den eigenen Reihen und bei den langjährigen Projektpartnern und Förderern zu überwinden. Wir lassen es allen Teilnehmern bis einen Tag vor Eröffnung offen, sich noch für eine Teilnahme zu entscheiden.
Am Ende werden wir 2020 einen ganz anderen Tag der Industriekultur erleben. Die beliebte Route Offenes Werktor hat sich am auffälligsten verkürzt. Denn wie auch beim Tag der Industriekultur in Chemnitz zeigt sich die Leipziger Wirtschaft bei der Zugänglichkeit ihrer Produktionsbereiche zögerlich. Was jeder versteht. Meiner Wahrnehmung nach gibt es 2020 weniger Paukenschläge. Das Bewundernswerte des Programms liegt in der gewachsenen Zahl scheinbar unspektakulärer Projekte, Wanderungen, Fahrradtouren, Kahnpartien, Lesungen usw. Industriekultur im Lebensalltag.
Was empfehlen Sie Gästen, die die Tage der Industriekultur Leipzig besuchen wollen?
Da bin ich wie gesagt zögerlich. Besuchen Sie unsere Webseite www.industriekulturtage-leipzig.de. Dort sind aktuell über 120 Veranstaltungen im Angebot. Sie werden sich schwer entscheiden können. Ich selbst werde mir die Ausstellung »Me mou haptou« von Selma van Panhuis in der Heilandskirche Plagwitz ansehen. Diese Kirche ist wie keine zweite mit der Industrialisierung und des Plagwitzer Industrieproletariats verbunden. „Schellack, Wachs und Pferdehaar: Die frühen Jahre der Tonträgergeschichte“, den Beitrag der Deutschen Nationalbibliothek zu den Industriekulturtagen, will ich mir „privat“ ansehen und werde wie jedes Jahr an der Fachführung durch den von Sternburgschen Schlosspark in Lützschena – einem Unternehmerpark – teilnehmen.
Heinrich Moritz Jähnig
2. Vorsitzender des Industriekultur Leipzig e. V.
Koordinator der Tage der Industriekultur Leipzig
E-Mail: info@industriekultur-leipzig.de
Nachdruck, auch auszugsweise nicht gestattet.
Quelle: www.industriekultur-in-sachsen.de